38. Spieltag - Die letzte Seite des Buches

18. Dezember 2072

Ein eiskalter Sonntag im tiefsten Mecklenburgischen Winter. Es schneite seit Tagen ununterbrochen, doch den meisten Menschen schien dieses unerträgliche Wetter gar nicht zu stören. Überall sah man Frauen, die Weihnachtsdeko aufhängten oder Kinder, die mit ihren Schlitten Hügel runtersausten. Es war kurz vor Weihnachten in Rostock.
Hans A. hasste Weihnachten. Es erinnerte ihn immer wieder an seine eigene Einsamkeit und dieser Gedanke machte ihn zu einem verbitterten und vom Leben enttäuschten alten Greis, der sich jeden Morgen aufs Neue überlegen musste, was er mit dem Tag überhaupt anfangen soll. Meistens endeten diese Überlegungen in Depressionen.
Auch an diesem eher trostlosen Nachmittag kurz vor Weihnachten fiel dem alten Mann nichts besseres ein, als zu Hause zu sitzen und sich Pferdesport im NDR anzusehen. Dabei erinnerte er sich, wie sein längst verstorbener Vater früher immer geschimpft hat: "Der NDR kommt noch nicht mal auf den Gedanken, Fußball zu zeigen". Hans grunzte bei dem Gedanken. Damals, als sein Vater noch jung war, musste man anscheinend immer darauf hoffen, dass irgendein Fernsehsender Fußballspiele überträgt. Heutzutage kann man soviel Fußball gucken, wie man Lust hat.
Aber Hans hatte eben keine Lust auf Fußball. Ehrlich gesagt konnte er nie den Enthusiasmus und die Leidenschaft verstehen, die dieser Sport auslöst, allen voran bei seinem Vater. Dieser war nämlich schon in seiner Jugend begeisterter Fan von Hansa Rostock: hat Schals gekauft, ist ins Stadion gegangen, hat am Fanradio mitgefiebert. An Tagen, an denen Hansa spielte, konnte man rein gar nichts mit ihm anfangen. Nervig war das. Aber Hans hat diese Tatsache akzeptiert, wenngleich er wusste, dass er derartige Verhaltensweisen nie an den Tag legen würde.
Einmal, als Hans vielleicht gerade einmal ein Teenager war, bekam er von seinem Vater ein seltsames Buch geschenkt. Fast so etwas wie ein Tagebuch. Sein Vater meinte, dass er mal reinlesen sollte und dachte anscheinend, er tue seinem Sohn mit diesem Geschenk ein Gefallen. Doch als Hans damals das ominöse Zeichen einer roten Kogge mit blauen Segeln auf dem Umschlag erkannte, hätte er es am liebsten gleich wieder weggeworfen. Aus Liebe und Respekt gegenüber seinem Vater tat er dies jedoch nicht. Es muss also noch irgendwo in der Wohnung sein, dachte Hans. Er hatte sowieso nichts zu tun, also begann er zu suchen.
Nach endloser Kramerei in unzähligen Schubladen fand er, wonach er suchte. Da war es: ein verstaubtes, altes, dickes Buch mit dem Cover "Die Leiden des jungen Hansa-Fans - Saison 2014/15" und dem Symbol der Kogge darunter.

Hans schlug das Buch auf und sofort erkannte er die feine, säuberliche Schrift seines Vaters. "Saison 2014/15", groß und in leuchtenden Buchstaben geschrieben, schmückte eine Doppelseite am Anfang des Buches. In Hans' Gedanken regte sich etwas. Sein Vater hatte diese Saison später mehr als nur einmal erwähnt. Muss also eine spezielle Spielzeit gewesen sein.
Sein Sohn war allerdings lesefaul und hatte das Interesse auch schon fast wieder verloren, doch er entschied sich, das Buch einfach mal durchzublättern. Schlimmer als das Fernsehprogramm konnte es ja nicht sein...
Hans hatte Glück, denn er musste gar nicht lesen. Sein Vater hatte sich entschieden, bestimmte Ereignisse der Saison zu fotografieren und ins Buch einzukleben. Die Bilder waren sehr verschieden. Ein Bild zeigte beispielsweise eine wunderschöne Choreographie der Hansa-Fans und erwartungsfrohe Gesichter, wohin man nur schaute. Die Bildunterschrift verriet, dass es sich um das Heimspiel gegen Erfurt handelte. Ein anderes Foto jedoch erzeugte eine bedrückende Atmosphäre. Es zeigte Menschen, die dick angezogen im Stadion saßen, eine Weihnachtsmütze trugen und Tränen in den Augen hatten. Im Hintergrund sah man jedoch eine kleine Meute feiern - wahrscheinlich waren es Gästefans.
Ein paar Seiten weiter erkannte Hans wieder eine Schar weinender Hansa-Fans. Doch diesmal waren es Tränen der Freude. "3:2 gegen Dortmund. Das war der Klassenerhalt!" stand unter dem Bild. Es schien damals eine sehr aufwühlende Zeit gewesen zu sein, dachte Hans. Fast schon eine Achterbahn der Gefühle. Wie das Buch wohl endet?
Zwei Seiten vor Ende des Tagebuchs gab es plötzlich keine Bilder mehr. Entweder war die Kamera seines Vaters kaputt gegangen oder er hatte einen anderen Grund, keine Fotos mehr zu machen. Stattdessen fiel Hans ein Datum auf: 23. Mai 2015. Dick unterstrichen, mit roter Farbe. Darunter ein langer Text. Hans gab sich einen Ruck, holte seine Brille aus dem Schlafzimmer und begann zu lesen.

"Heute sollte ein Tag werden, an den ich mich lange erinnern werde. Er entschied nämlich über Leben oder Tod, Himmel oder Hölle. Es war der letzte Spieltag und es herrschte ein Gemisch aus Angst und Zuversicht bei den meisten unter uns. Doch die Angst überwog. Hansa unterlag eine Woche zuvor mit 0:1 im Ostseestadion gegen den alten Rivalen aus Cottbus. Und plötzlich waren es nur noch zwei Punkte Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz. Hansa musste also entweder selber in Dresden gewinnen oder darauf hoffen, dass die Konkurrenz aus Unterhaching oder Mainz patzt.
Ich erinnere mich genau an die Tabellenkonstellation. Hansa hatte 41 Punkte - punktgleich mit Mainz, die jedoch ein deutlich besseres Torverhältnis besaßen. Unterhaching, ein sympathischer Verein aus Rand-München, ging mit 39 Punkten in die letzte Runde und musste also in Erfurt definitiv gewinnen, um uns zu überholen.
Die Ausgangssituation war nicht die schlechteste, doch Hansa hatte die vielleicht schwierigste Aufgabe: auswärts in Dresden. Vor ausverkauftem Haus und ohne eigene Fans. Doch das Spiel wurde tatsächlich vom MDR übertragen und ich glaube, ganz Rostock saß heute vor dem Fernseher. Vielleicht sogar ganz Mecklenburg-Vorpommern. Und zitterte.
Um 13 Uhr kamen dann die Aufstellungen rein. Dresden spielte folgendermaßen:
Kirsten - Kreuzer, J. Müller, Hefele, Teixeira - Moll, Hartmann - Tekerci, Dürholtz, Stefaniak - Eilers
Hansa spielte mit genau dieser Mannschaft:
Schuhen - Ahlschwede, Hüsing, Grupe, Sumusalo - Schünemann, Schwertfeger - Jakobs, Bickel - Savran, Ziemer"
- Die Schrift seines Vaters wurde immer schwerer zu entziffern, sodass Hans über bestimmte Namen nur mutmaßen konnte -
"Die Anspannung stieg. Jeder wusste, was die kommenden 90 Minuten bewirken konnten. Kurz vor Anpfiff blickte ich ins Hansa-Forum und vernahm dort die letzten Reaktionen vor dem sich anbahnenden Existenzkampf.
Und dann begann es."
Hans blätterte um und widmete sich der letzten Seite des Buches...

Zehn Minuten später lag der alte Mann im Bett. "Dass 90 Minuten so viele Emotionen bereit halten können, das hätte ich nie für möglich gehalten" sprach er leise zu sich.

Was wohl auf der letzten Seite des Tagebuchs stand?
This contribution was last edited by hansainhamburg on May 18, 2015 at 12:42 PM hours